Die Geschichte des Verfügbarmachens
Die Geschichte des Verfügbarmachens verläuft in etwa so:
- Wir sehen etwas, das uns anzieht: Ein Ziel, einen Menschen, ein Ding, eine Fähigkeit, ein was-auch-immer.
- Wir suchen Zugang. Wir wollen dem Ersehnten näherkommen.
- Wir suchen das Ersehnte – meist im besten Sinne – zu „beherrschen“: Die neue Fähigkeit unter Kontrolle zu bringen, die neue Beziehung auf verlässliche Beine zu stellen, das neue Handy unser Eigen zu nennen, und so weiter und so fort.
- Wir wollen das Neue einsetzen, um uns und anderen Nutzen zu stiften.
Die Geschichte des Verfügbarmachens ist eine alltägliche Geschichte.
Es kann eine düstere Geschichte sein: Denk nur an die Ausbeutung von Menschen und Natur, wenn – koste es, was es wolle – Rohstoffe entdeckt, erschlossen, abgebaut und verkauft werden.
Oder es ist eine Geschichte von Meisterschaft: Eine Musikerin entdeckt ein neues Stück, erarbeitet es sich mit viel Übung, Geschick und Fleiß, bis sie es zur Perfektion beherrscht, um anderen höchsten Musikgenuss zu bereiten.
Verfügbarmachen ist alltäglich.
Doch ist Verfügbarkeit ein gutes Ziel?
Der deutsche Philosoph Hartmut Rosa erzählt die Geschichte des Verfügbarmachens mit einem besonderen Blick. Aus seiner Sicht dominiert das Verfügbar-machen-wollen die Menschen des 21. Jahrhunderts auf radikale Weise. Es bestimmt unsere Beziehung zu uns selbst, zu anderen Menschen, zur Natur, ja – zur gesamten Welt.
Fast zwanghaft muss alles gewusst, beherrscht, erobert, optimiert, nutzbar gemacht werden. Es ist eine tragische Geschichte: „Unablässig versucht der moderne Mensch, die Welt in Reichweite zu bringen. Dabei droht sie uns jedoch stumm und fremd zu werden.“ (Hartmut Rosa, Covertext zum Buch: Unverfügbarkeit, Residenz Verlag, 2020). Rosa erklärt, dass gänzliche Verfügbarkeit und Lebendigkeit nicht vereinbar sind:
- Lebendigkeit entsteht aus Momenten von Resonanz: Wir lassen uns berühren, z. B. von einer Begegnung, einer Schneeflocke, einem Sonnenuntergang, einem Projekt oder einer Idee. Wir antworten auf unser Berührt-Sein, z. B. mit Zuwendung, mit einem wohligen Schauer oder mit innerer Aufregung. Wir lassen uns von dem Moment verwandeln. Die Art und das Ausmaß dieser Verwandlung ist nicht plan- oder beherrschbar: Vielleicht entsteht ein flüchtiges Gefühl von Fülle, vielleicht verändert dieser eine Moment unser Leben.
- Jeder Moment von Resonanz beinhaltet diese 3 Aspekte: Das Berührt-Sein, die innere oder äußere Antwort und eine wenn auch noch so kleine Verwandlung. Ohne Berührung, Antwort und Verwandlung entsteht keine Beziehung, keine Lebendigkeit. Es bleibt eine bloße „Aneignung“ eines Dings, eine „Beziehung der Beziehungslosigkeit“ (S. 42).
- Eine Welt ohne Resonanz ist stumm und fremd. Sie berührt nicht mehr. Sie antwortet nicht.
- Um Resonanz zu erfahren, braucht es den Mut, der Welt mit offenem Herzen zu begegnen. Es braucht die mentale Offenheit und Einsicht, den entscheidenden Moment nicht beherrschen zu wollen und zu können. „Resonanz ist konstitutiv unverfügbar“, schreibt Rosa (S. 44). Man kann sie nicht erzwingen oder herstellen. „Wir können die teure Sahara-Safari oder die Kreuzfahrt kaufen, nicht aber die Resonanz mit der Natur. Die Funktionsweise der Werbung und der kapitalistischen Warenwirtschaft überhaupt beruht darauf, dass sie unser existenzielles Resonanzbedürfnis, und das heißt: Unser Beziehungsbegehren, in ein Objektbegehren übersetzt. Wir kaufen die Ware (die Safari) und hoffen auf eine Resonanzerfahrung mit der Natur – die Erstere lässt sich garantieren, die Letztere nicht.“
- Sobald etwas uns gänzlich zur Verfügung steht, ist gar keine Resonanz mehr damit möglich. Wir beherrschen es (das Ding, die Fähigkeit, das Musikstück, eine Beziehung) und können es scheinbar nach Belieben einsetzen und nutzen. Gerade dadurch entzieht es sich unserer Begegnung und Berührung. In meinen Worten: Erst das Ungeplante, das Überraschende, das noch nicht Durchdrungene schafft Raum für Lebendigkeit und Resonanz. In Rosas Worten: „Resonanz bedarf einer erreichbaren, nicht einer (grenzenlos) verfügbaren Welt. Die Verwechslung von Erreichbarkeit und Verfügbarkeit liegt an der Wurzel des Weltverstummens in der Moderne“ (S. 67).
Was sagt dein Herz?
Rosas Buch berührt mich. Auch an den vielen Beispielen – von der Geburt bis zum Tod, von Digitalisierung und Selbstoptimierung, von Kunst und Sexualität, von Wissenschaft, Politik und Wirtschaft – sehe ich, wie sehr unsere Gesellschaft das Streben nach grenzenloser Verfügbarkeit zum Ziel erklärt. Ich verstehe, wie sehr dieses Ziel in die Irre führen kann: Wir verhindern, wonach wir uns eigentlich sehnen.
Das Buch lässt mich berührt, aber auch ratlos zurück: Was ist die Antwort? Sollen wir aufhören, die Welt verfügbar machen zu wollen? Und wenn ja, wie?
Die gute Nachricht zum Schluss: Rosas Buch enthält zwar keine Antwort, aber eine Inspiration: Er spricht davon, dass Resonanz immer ein Berührt-Sein, eine Antwort und eine Verwandlung umfasst. Also lausche ich meiner Antwort auf mein Berührt-Sein: Es geht um ein offenes Herz. Es geht darum, berührbar zu bleiben, im Guten und auch in nicht so guten Momenten.
Und die Verwandlung?
So verstehe ich es:
- Lass dich nicht abbringen von den vier Schritten des Verfügbarmachens. Nichts davon ist für sich genommen schlecht: Lass dich weiter von schönen und guten Dingen aller Art anziehen. Suche weiterhin Zugang dazu. Suche weiterhin die Meisterschaft, z. B. über deine Fähigkeiten. Orientiere dich weiterhin daran, Nutzen zu stiften für dich selbst, für andere, für das Ganze.
- Unterscheide zwischen „Meisterschaft“ und „Beherrschen-wollen“. „Beherrschen-wollen“ ist motiviert aus der Angst, nicht genug zu haben oder nicht genug zu sein. „Meisterschaft“ ist motiviert aus der Lust, weiterzugehen, zu lernen, zu entwickeln und zu entfalten.
- Freunde dich mit deiner „Begrenztheit“ an. Freue dich, dass es Fähigkeiten gibt, an denen du dein ganzes Leben lang weiterwachsen kannst. Freue dich, dass es Menschen gibt, an denen du immer wieder neue Seiten entdecken kannst. Freue dich, dass manche deiner Meinungen und Bilder von gestern vielleicht heute schon nicht mehr gelten.
- Mach dein Herz auf. Lass dich berühren. Staune über deine Antwort. Staune darüber, wie deine Antwort in die Welt wirkt.
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Mein Buchtipp: „Unverfügbarkeit“ Hartmut Rosa (Residenz Verlag, Wien-Salzburg, 2020)
Hallo Stefan, Vielen Dank für diesen Beitrag. Wie ich finde, wunderbar beschrieben. Ich erlebe tiefe innere Berührtheit als Inbegriff von menschlichem Erleben.
Von Herzen Liesbeth
Herzlichen Dank, Liesbeth!